Der 1. August 1949 gilt als Gründungsdatum der Magdeburger Paramentenwerkstatt auf dem Gelände der Pfeifferschen Stiftungen. Die Gründerin war die mit der Schwesternschaft des Diakonissen-Mutterhauses Bethanien aus Breslau/Schlesien (heute Wrocław/Polen) gekommene Diakonisse Schwester Charlotte Thiel. Ihrem Leitsatz, "Das Beste für den Altar ist gerade gut genug", ist sie stets konsequent treu geblieben. Bis heute lebt dieser Satz fort. Nichts hat er von seiner Gültigkeit verloren. Punktgenau weist er auf die Aufgabe einer verantwortlichen Paramentenarbeit, der liturgisch-textilen Ausgestaltung von Gottesdienstraum und Gottesdienst hin.
Die ausgebildete Kindergärtnerin, Hortnerin und Werklehrerin Schwester Charlotte Thiel (geboren am 27.10.1906 in Liegnitz/Schlesien, gestorben am 5. 11.1992 in Magdeburg) legte im Herbst 1948 vor der Handwerkskammer in Dresden die Meisterprüfung im Sticker-Handwerk als Handstickerin und Paramentikerin "mit Auszeichnung" ab. Der lang gehegte Wunsch der Oberin des Diakonissen-Mutterhauses Schwester Elisabeth v. Heydebrand, mit ihren Diakonissen neben den vielen anderen Arbeitsbereichen auch eine Paramentenwerkstatt zu betreiben, sollte nach allen Kriegswirren endlich in Magdeburg-Cracau in Erfüllung gehen. Dass Sr. Charlotte die Arbeit in einem kombinierten Wohn-Arbeitsraum mit einem einzigen Spinnrad begann, ist legendär.
Etwa 1950 bezog die Paramentik die ersten beiden Werkstatträume im "Haus Zoar" an der Pfeifferstraße, wo die Arbeit über viele Jahrzehnte hinweg beheimatet bleiben sollte. Welcher Anstrengungen es in der Folgezeit bedurfte, Webstühle, weitere Arbeitsgeräte und Material zu beschaffen - die alten, bewährten Wirtschafts- und Handelsstrukturen waren zerstört - lässt sich heute nicht mehr ermessen. Zunächst bestand die Arbeit hauptsächlich aus Ausbesserungen und Aufarbeitungen alter Paramente. Für Neuanfertigungen mussten die Kirchengemeinden neben der Auftragserteilung nicht selten auch das nötige Material mitliefern.
1951 bekam Sr. Charlotte tatkräftige Unterstützung von Schwester Emma Weitze, die vor allem mit dem Sticken farbiger Paramente betraut war. Noch ganz im Stil des Schriftkünstlers und Grafikers Rudolf Koch (1876-1934), der der Paramentik deutschlandweit ab der Mitte der 1920er Jahre aus den überkommenen Gestaltungsformen des 19. Jahrhunderts herausgeholfen hatte, gehörten zu den häufigsten Motiven auf den Paramenten Kreuze, Christusmonogramme und Bibelworte. Zudem war Kochs Idealvorstellung nicht mehr die Fertigung der Paramente aus Samt und Tuch, sondern die Arbeit mit handgesponnenen Garnen, selbstgewebtem Leinen und das Färben mit Pflanzenfarben. Von Beginn an war die Werkstatt Mitglied in der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik e.V., dem 1924 im Kloster St. Marienberg zu Helmstedt gegründeten Dachverband der Paramentenwerkstätten. Bis heute lädt die Marienberger Vereinigung jährlichen zu Mitgliederversammlungen und Fachtagungen ein. Als wichtige Schnittstelle zu kirchlichen und anderen Entscheidungsträgern unterstützt sie den Informationsaustausch, fördert Weiterbildungen und rückt durch gemeinsame Ausstellungen den Arbeitsbereich der Paramentik in den öffentlichen Fokus.
Ab 1952 arbeitete Schwester Margarete Schilling in der Werkstatt mit. Sie konnte bereits auf eine Lehre zur Damenmaßschneiderin verweisen und gehörte 1956 zur Gruppe der ersten vier Paramentik-Schülerinnen, die bei Sr. Charlotte ihre dreijährige Ausbildung begann. Noch im selben Jahr verabschiedete die Kirchenleitung offiziell eine für die Kirchenprovinz Sachsen eigene Prüfungsordnung und erkannte das Magdeburger Diakonissen-Mutterhaus Bethanien als Träger einer Lehrwerkstatt an. Nach erfolgreicher Gesellenprüfung zur Paramentikerin war Sr. Margarete bis zu ihrem Ruhestand vor allem eine versierte Ausbilderin in den Techniken der Weißstickerei. Neben den theoretischen Grundlagen, angefangen von der Geschichte der Stickerei bis hin zur Bibelkunde, umfasste die gründliche praktische Ausbildung die Bereiche Sticken, Weißsticken, Gobelinweben, Spinnen von Wolle und Flachs und Färben mit Naturfarbstoffen und chemischen Farben. Bis 1989 endete die Ausbildung in der Paramentik mit einem kirchlichen, nicht staatlich anerkannten Examen. In Fachkreisen galt sie jedoch als exzellent fundiert und gründlich, sodass die allermeisten Paramentikerinnen bald neue Möglichkeiten der Arbeit z.B. in der Weberei der Kunsthochschule in Halle/Saale fanden oder weiterführende Studiengänge wie Textilrestaurierung, Kunstpädagogik, Kunstgeschichte oder Theologie belegten.
1976 gab Schwester Charlotte Thiel die Leitung der Werkstatt an Schwester Rosemarie Bohling weiter. Rosemarie Bohling, geboren 1937 in Althaldensleben/Börde, begann ebenfalls als eine der ersten Schülerinnen 1956 die Ausbildung zur Paramentikerin und legte 1959 die Gesellenprüfung ab. Indem sie ihrer Berufung folgte, wurde sie1965 zur Diakonisse eingesegnet. 1966 absolvierte Sr. Rosemarie die Leiterinnen-Prüfung für Paramentik. Ihre Paramentenentwürfe loteten in Stil und technischer Ausführung zunehmend neue Möglichkeiten aus, die Botschaft des christlichen Glaubens sichtbar zu machen. Die Teilnahme der Mitarbeiterinnen der Werkstatt an Werkkunstwochen in Radebeul und Bibelwochen für Kunst und Kunsthandwerker in Berlin weiteten den schöpferischen Horizont, schulten das Urteilsvermögen und gaben überaus wichtige Impulse für einen qualifizierten Fortgang der Werkstattarbeit. Als außerordentlich bereichernd erwies sich der Kontakt zum Schönebecker Glas-, Textil- und Metallgestalter Christof Grüger (*1926 - †2014). Nach seinem Entwurf entstand in der Werkstatt ein Wandbehang für die Kirche in Bensdorf. Und in Zusammenarbeit mit der Sakralraumgestalterin und Kunsttherapeutin Maren-Magdalena Sorger wurden gewebte Paramente für die Magdeburger Luthergemeinde, die Kirche Westeregeln und das Bischöfliche Ordinariat Magdeburg realisiert.
1990 nahm Künstlerin und Diplompädagogin für Kunst und Geschichte Verena Werk (ehemals Kups-Lange, *1961) ihre Arbeit in der Werkstatt auf. Über knapp 10 Jahre hinweg prägten ihre Entwürfe die Paramente aus der Magdeburger Werkstatt maßgeblich und zukunftsweisend. Zu einer ihrer wichtigsten Arbeiten gehört sicher der 1995 gewebte Wandteppich "So lange die Erde steht, soll nicht aufhören..." (1,20 m hoch x 2 m lang), der heute im Kinderhospiz der Pfeifferschen Stiftungen hängt. Neben der Arbeit an Entwürfen und am Hochwebstuhl, unterrichtete Verena Werk die Paramenten-Schülerinnen in Kunstgeschichte und Gestaltungs- und Formenlehre.
1991 wurden die in der DDR-Zeit erworbenen Berufsabschlüsse der Paramentik von der Handwerkskammer als Gesellenprüfung im Sticker-Handwerk anerkannt. Das Zeugnis der Leiterinnen-Prüfung wurde zum Meisterbrief.
1993 legten in Magdeburg die letzten beiden Auszubildenden die Gesellenprüfung ab, von denen eine zur Bundessiegerin der Handwerkerjugend im Stickerhandwerk ernannt wurde. Nachweislich durchliefen von 1959 bis 1993 in Magdeburg 56 junge Frauen erfolgreich die Ausbildung zur Paramentikerin.
1997 zog die Paramentenwerkstatt aufgrund geplanter Umbau-und Erweiterungsmaßnahmen für das angrenzende Johannesstift in das kleinere "Sonnenhaus" genannte Gebäude um.
1999 beging die Werkstatt ihr 50-jähriges Bestehen mit einem Ehemaligentreffen, bevor sie zum 31. Dezember erst einmal schloss. Die Aufzeichnungen ab 1951 zählen knapp 660 farbige Paramente, Altardecken und Abendmahlstücher, die allein an Magdeburger Kirchengemeinden und andere Magdeburger Auftraggeber geliefert werden konnten. Landesweit genoss die Werkstatt einen guten Ruf, galt als kompetent, sorgfältig und zuverlässig. Auch ins Ausland gingen Arbeiten u.a. nach Tansania, England, Polen, Ungarn und Kanada.
Am 1. Januar 2000 eröffnete Gudrun Willenbockel die TEXIL-WERKSTATT. Als ehemalige Schülerin und langjährige Mitarbeiterin der Paramentenwerkstatt hatte sie sich mit der Meisterprüfung darauf vorbereitet und führt seitdem die traditionsreiche Arbeit fort. Die Prognosen, dass Paramente in naher Zukunft bedeutungslos werden würden, bewahrheiteten sich nicht. 2017 beging Gudrun Willenbockel ihr 40-jähriges Berufsjubiläum.
Im August 2019 verzeichnet die Werkstatt nach wie vor einen stetigen Bedarf an zeitgemäßen, textilen Kunstwerken für Gottesdienst und Kirchenraum. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Arbeit ist die Beratung der meist ehrenamtlich tätigen Verantwortlichen in den Kirchengemeinden. Ob es um die Erhaltung vorhandener Paramente geht oder eine Neuanfertigung geplant wird, ob es um Fragen im praktischen Umgang mit Paramenten oder um einen Vortrag zu deren Geschichte, ihre Bedeutung, ihre Farben und Symbole geht: Gudrun Willenbockel steht mit Rat und Tat zur Verfügung.
"Das Beste für den Altar ist gerade gut genug". Oft sind es schon eine gewaschene Altardecke, geputzte Leuchter, eine reparierte Aufhängung des Altarbehangs, ein gerade gerückter Behang an der Kanzel, frisch geschnittene Blumen, die den Leitsatz der Gründerin der Werkstatt Schwester Charlotte Thiel mit Leben erfüllen. Ein "gut genug" bedeutet ein "würdig", ein würdig dem Haus Gottes, ein würdig dem Gott, der gefeiert, geehrt und angebetet wird. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der Berufsabschluss Paramentiker/Paramentikerin ist seit 2011 zum ersten Mal vollständig als staatlicher Abschluss anerkannt. Über das Berufsbild Textilgestalter/Textilgestalterin im Handwerk werden in einer dreijährigen, dualen Ausbildung textile Handwerkstechniken gelehrt. Je nach Spezialisierung des Ausbildungsbetriebs werden Gesellenbriefe in den Fachrichtungen Sticken, Weben, Stricken, Filzen, Klöppeln und Posamentieren erlangt. Eine theologische Zusatzqualifikation während dieser Ausbildung berechtigt das Führen der Berufsbezeichnung Paramentiker/Paramentikerin. Die Prüfungen werden vor dem Prüfungsausschuss der Handwerkskammer Rhein-Main in Darmstadt abgelegt.